Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 4599, Bl. 144-154
Nahezu 200.000 Menschen versammelten sich am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz und forderten demokratische Reformen in der DDR. Unterdessen informierte der vorliegende Wochenbericht die MfS-Führung über den Selbstmord zweier Parteifunktionäre.
Seit den 70er Jahren fungierte die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (ZAIG) als Schaltstelle der Geheimpolizei. Kernaufgaben dieser Diensteinheit waren die Auswertung von Informationen und die Erarbeitung von Berichten und Materialien zur Information des Ministers sowie der Partei- und Staatsführung. Diese Tätigkeit ging auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zurück, der das MfS und die SED überrascht hatte.
Die ZAIG fertigte u.a. Wochenberichte an, welche die wichtigsten Ereignisse der vorangegangenen Tage für die Führung des Ministeriums und für die SED-Führung zusammenfassten. Das vorliegende Dokument umfasst den Zeitraum vom 30. Oktober bis zum 6. November 1989. Nachdem die Grenze zur Tschechoslowakei anfang November seitens der DDR wieder geöffnet worden war, kam es zu einer riesigen Ausreisewelle aus der DDR. Vorausgegangen war ein Beschluss vom 3. November, dass DDR-Bürger ihr Land ohne Formalitäten über das östliche Nachbarland verlassen dürften. Nur einen Tag später versammelte sich etwa 200 000 Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz und demonstrierte für demokratische Reformen.
Der vorliegende Wochenbericht beschäftigt sich hauptsächlich mit den Forderungen der Demonstranten, welche sie über Losungen etc. stellten. Zudem wird das Ausmaß der Ausreisebewegung thematisiert und auf den Selbstmord zweier Parteifunktionäre hingewiesen.
Mißbrauch von Dienstreisen, u.a.:
Der Philosoph [geschwärzt] (56, Bereichsleiter, Zentralinstitut für Philosophie / Akademie der Wissenschaften der DDR, SED / langjähriges Mitglied der KPKK der Kreisleitung der SED der AdW) unter Ausnutzung einer befristeten Studienreise nach Westberlin.
Maßnahmen zur Aufklärung der Mitwirkung von Feindorganisationen, der Ursachen, Motive und begünstigenden Bedingungen sowie differenzierte Rückgewinnungsmaßnahmen wurden eingeleitet.
Aufklärung hatte innerhalb des MfS unterschiedliche Bedeutungen: Sie wird zur Bezeichnung des Tätigkeitsbereiches der Auslandsspionage verwendet, die überwiegend von der HV A getragen wurde, die teilweise auch kurz als Aufklärung bezeichnet wird. Darüber hinaus findet der Begriff Verwendung bei der Bezeichnung von Sachverhaltsermittlungen (Aufklärung eines Sachverhalts) und von Überprüfungen der Eignung von IM-Kandidaten (Aufklärung des Kandidaten).
Die AIG entstanden mit der Einführung des einheitlichen Auswertungs- und Informationssystems 1965 aus den in den Bezirksverwaltungen und zentralen operativen Diensteinheiten des MfS schon bestehenden Informationsgruppen. In ihrem Zuständigkeitsbereich oblag ihnen die Bewertung und Selektion von Informationen, die Gewährleistung des Informationsflusses und die Fertigung der Berichte für die Partei- und Staatsfunktionäre. Die AIG unterstanden der fachlichen Anleitung und Kontrolle der ZAIG. 1978/79 wurden sie zu Auswertungs- und Kontrollgruppen erweitert.
Die DDR-Geschichte war von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende auch eine Geschichte der Flucht. Der Bau der Mauer 1961 steht dafür ebenso symbolisch wie der von der Gesellschaft schließlich erzwungene Mauerdurchbruch 1989, der das Ende des SED-Staates markiert.
Zu einem Schwerpunkt in der Arbeit des MfS rückte ab den 70er Jahren das Vorgehen gegen "Antragsteller auf ständige Ausreise aus der DDR in die BRD bzw. nach Berlin (West)" (AStA) auf. Hierfür waren zwei Gründe ausschlaggebend: Mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975 verpflichtete sich die DDR, nachdem sie bereits die UN-Menschenrechtscharta unterzeichnet hatte, das Recht auf Freizügigkeit anzuerkennen. Trotzdem gewährte die DDR aber auch weiterhin nur Rentnern und Invaliden die Übersiedlung in die Bundesrepublik. Bereits einen Ausreiseantrag zu stellen, galt - da die Rechtsgrundlage in der DDR fehlte - als illegal und konnte mit Gefängnisstrafen geahndet werden. Das geschah auch häufig.
Nicht nur die Zahl der Anträge nahm seit Mitte der 70er Jahre zu, Ausreisewillige traten nun auch immer häufiger öffentlich mit Protesten in Erscheinung, wobei sie die Möglichkeit einer Inhaftierung in Kauf nahmen. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Entschlossenheit, mit den Verhältnissen in der DDR konsequent zu brechen, wurden sie in den Augen des MfS zu einem Sicherheitsrisiko. Auch die 1983 erlassene Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und Eheschließung zwischen Bürgern der DDR und Ausländern brachte keine Entlastung, da der Personenkreis eingeschränkt blieb. Ab Herbst 1983 bezeichnete das MfS diese Personengruppe als Übersiedlungsersuchende (ÜSE).
Obwohl Menschen, die die DDR verlassen wollten, ihren Antrag nur als Einzelperson oder ggf. gemeinsam mit ihren Familienangehörigen stellten, kann ab Mitte der 70er Jahre von einer Ausreisebewegung die Rede sein. Die Zahl der Ausreiseanträge war groß (zu den Zahlen der Republikflucht). Die Ausreiseantragsteller versuchten sich zu vernetzen und traten öffentlich in Erscheinung. Bereits 1973 ging von den auf die Genehmigung ihrer Ausreise hoffenden Familien Faust und Hauptmann in Pirna eine Unterschriftensammlung aus; 1976 gelangte die Petition des Riesaer Arztes Karl-Heinz Nitschke "zur vollen Erlangung der Menschenrechte" in die Westmedien. Die Petition war von 79 Personen unterzeichnet worden.
Bekannt wurden insbesondere die "weißen Kreise" (ausgehend von Jena Anfang der 80er Jahre, später auch in anderen Städten): Ausreiseantragsteller stellten sich auf zentralen Plätzen im Kreis auf und machten so auf ihr Begehren aufmerksam. Um sich untereinander zu erkennen und ihren Protest auszudrücken, trugen sie weiße Kleidung. Das MfS griff wiederholt ein und inhaftierte die Protestierenden.
Neben dem Besuch oder auch der Besetzung westlicher Botschaften in der DDR, insbesondere der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin, und im kommunistischen Ausland organisierten sich Ausreiseantragsteller ab 1987 in Gruppen, die zumeist bei evangelischen Kirchengemeinden Zuflucht fanden. In Ostberlin konstituierte sich im Herbst 1987 die Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR, die Rechtsberatungen durchführte, die Solidarität unter Antragstellern organisierte und mit Protesterklärungen auf das Schicksal der Antragsteller aufmerksam machte. Weitere Gruppen entstanden in Leipzig, Berlin-Treptow, Stralsund, Greifswald, Dresden und vielen anderen Städten.
Es kam immer häufiger zu öffentlichen Protesten. An Autos oder in Wohnungsfenstern wurden Symbole angebracht, um auf den gestellten Ausreiseantrag öffentlich aufmerksam zu machen. Mehrfach kam es auch zu Besetzungen von Kirchen, wobei die Kirchenleitungen nicht immer im Sinne der Besetzer agierten. Fanden Gespräche oder Rechtsberatungen mit Ausreiseantragstellern außerhalb kirchlicher Räume statt (wie in einem Jugendklub in Potsdam-Babelsberg), so intervenierte das MfS und nahm die unmittelbar Beteiligten meist in Haft.
Um gegen die zunehmende Zahl der Ausreiseanträge vorzugehen, erließ MfS-Minister Erich Mielke am 18.3.1977 den Befehl 6/77 zur "Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung rechtswidriger Übersiedlungsersuchen". Geregelt wurden hier auch die Informationspflicht und die Zusammenarbeit zwischen der 1975 (Befehl 1/75) gebildeten Zentralen Koordinierungsgruppe bzw. den Bezirkskoordinierungsgruppen, die für die Zusammenarbeit mit dem MdI und kommunalen Instanzen verantwortlich zeichneten, und den zuständigen MfS-Diensteinheiten.
Im Fall von auffällig "feindlich-negativen" Antragstellern, von denen potenziell Aktivitäten zur "Erzwingung" der Ausreise ausgingen, wurde seitens des MfS der Abteilung Inneres beim Rat des Bezirks oder Kreises die Option eingeräumt, eine "vorbeugende Übersiedlung" des Antragstellers zu veranlassen. Im Jahr 1988 musste das MfS immer wieder "öffentlichkeitswirksame Provokationen" von "aktiv handelnden Zusammenschlüssen" - Demonstrationen mit Hunderten, in Ausnahmefällen sogar mehreren Tausend Teilnehmern - in fast allen DDR-Bezirken feststellen.
Als wenig erfolgreich galten die in Verantwortung der Abteilung Inneres durchgeführten "Zurückdrängungsgespräche", die mit Antragstellern auf Weisung des MfS zu führen waren - nicht selten wurden diesen dabei eine Verbesserung der Wohnraumsituation oder die Aufhebung von Diskriminierungen am Arbeitsplatz in Aussicht gestellt. Antragstellern, die sich mehrfach an staatliche Stellen gewandt hatten (im MfS-Sprachgebrauch: "hartnäckige Antragsteller"), wurden strafrechtliche Sanktionen angedroht, und sie wurden nicht selten vom MfS inhaftiert. Dies traf vor allem dann zu, wenn Antragsteller Konsequenzen angekündigt oder westliche Stellen von ihrem Antrag in Kenntnis gesetzt hatten.
Von 1977 bis zum Sommer 1989 wurden in der DDR etwa 20.000 Ermittlungsverfahren gegen Antragsteller eingeleitet. Zuständig für die Bearbeitung war jeweils das MfS und deren Untersuchungsorgan; inhaftierte Antragsteller wurden in die MfS Untersuchungshaftanstalten überstellt und gelangten oft nach einer gerichtlichen Verurteilung über den Häftlingsfreikauf in die Freiheit. Flucht und Ausreise stellten ganz wesentliche Destabilisierungs- und Delegitimierungsfaktoren der SED-Herrschaft von 1949 bis 1989 dar.
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").
Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 4599, Bl. 144-154
Nahezu 200.000 Menschen versammelten sich am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz und forderten demokratische Reformen in der DDR. Unterdessen informierte der vorliegende Wochenbericht die MfS-Führung über den Selbstmord zweier Parteifunktionäre.
Seit den 70er Jahren fungierte die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (ZAIG) als Schaltstelle der Geheimpolizei. Kernaufgaben dieser Diensteinheit waren die Auswertung von Informationen und die Erarbeitung von Berichten und Materialien zur Information des Ministers sowie der Partei- und Staatsführung. Diese Tätigkeit ging auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zurück, der das MfS und die SED überrascht hatte.
Die ZAIG fertigte u.a. Wochenberichte an, welche die wichtigsten Ereignisse der vorangegangenen Tage für die Führung des Ministeriums und für die SED-Führung zusammenfassten. Das vorliegende Dokument umfasst den Zeitraum vom 30. Oktober bis zum 6. November 1989. Nachdem die Grenze zur Tschechoslowakei anfang November seitens der DDR wieder geöffnet worden war, kam es zu einer riesigen Ausreisewelle aus der DDR. Vorausgegangen war ein Beschluss vom 3. November, dass DDR-Bürger ihr Land ohne Formalitäten über das östliche Nachbarland verlassen dürften. Nur einen Tag später versammelte sich etwa 200 000 Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz und demonstrierte für demokratische Reformen.
Der vorliegende Wochenbericht beschäftigt sich hauptsächlich mit den Forderungen der Demonstranten, welche sie über Losungen etc. stellten. Zudem wird das Ausmaß der Ausreisebewegung thematisiert und auf den Selbstmord zweier Parteifunktionäre hingewiesen.
Anlage
Streng geheim
Hinweise zum vorläufigen Stand und zu den Entwicklungstendenzen von Antragstellern auf ständige Ausreise nach der BRD und Westberlin
(ohne Alters- und Invalidenrentner)
Berichtswoche: 30.10. - 5.11.1989
Seit dem 1. Januar 1989 wurden durch die zuständigen Organe Inneres der Räte Anträge auf ständige Ausreise nach der BRD bzw. Westberlin für insgesamt 194983 Bürger der DDR entgegengenommen.
Davon reichten in der Berichtswoche 6803 (6637)* Bürger der DDR ihre Anträge bei den zuständigen Organen Inneres ein.
Die meisten Antragsteller wurden bisher registriert in den Bezirken Dresden / 36423 Personen, Karl-Marx-Stadt / 30361, Berlin / 24611 und Leipzig / 24367.
Gemäß Weisung des Ministers des Innern und Chef der DVP vom 26.10.1989 und dazu erfolgter Einweisungen der Leiter der Abt. Inneres / GA der Bezirke sowie der Leiter der BKG auf einer gemeinsamen Beratung am 30.10.1989 wurden in der Berichtswoche die Antragsteller auf ständige Ausreise bis auf Ausnahmen von der Einleitung der Genehmigungsverfahren in Kenntnis gesetzt. Sie begannen mit der Beibringung der für die ständige Ausreise erforderlichen Dokumente.
Die Antragsteller, die Abstand von ihrem Vorhaben der ständigen Ausreise nahmen erhöhten sich auf 815 (413) in der Berichtswoche. (Seit 1. Januar 1989 insgesamt 5195 Antragsteller.)
* Klammerzahlen beziehen sich auf die Vorwoche.
Eine selbständige Abteilung ist eine Organisationsstruktur in der MfS-Zentrale, die durch den Minister oder einen seiner Stellvertreter direkt angeleitet und durch militärische Einzelleiter geführt wurde. Die weiter untergliederten Abteilungen prägten Linien aus (z. B. Abt. XIV; Linienprinzip) oder blieben auf die Zentrale beschränkt (z. B. Abt. X). Die eng umrissenen Zuständigkeiten mit operativer Verantwortung und Federführung orientierten sich an geheimdienstlichen Praktiken (Telefonüberwachung) oder Arbeitsfeldern (Bewaffnung, chemischer Dienst).
Die AIG entstanden mit der Einführung des einheitlichen Auswertungs- und Informationssystems 1965 aus den in den Bezirksverwaltungen und zentralen operativen Diensteinheiten des MfS schon bestehenden Informationsgruppen. In ihrem Zuständigkeitsbereich oblag ihnen die Bewertung und Selektion von Informationen, die Gewährleistung des Informationsflusses und die Fertigung der Berichte für die Partei- und Staatsfunktionäre. Die AIG unterstanden der fachlichen Anleitung und Kontrolle der ZAIG. 1978/79 wurden sie zu Auswertungs- und Kontrollgruppen erweitert.
Die DDR-Geschichte war von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende auch eine Geschichte der Flucht. Der Bau der Mauer 1961 steht dafür ebenso symbolisch wie der von der Gesellschaft schließlich erzwungene Mauerdurchbruch 1989, der das Ende des SED-Staates markiert.
Zu einem Schwerpunkt in der Arbeit des MfS rückte ab den 70er Jahren das Vorgehen gegen "Antragsteller auf ständige Ausreise aus der DDR in die BRD bzw. nach Berlin (West)" (AStA) auf. Hierfür waren zwei Gründe ausschlaggebend: Mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975 verpflichtete sich die DDR, nachdem sie bereits die UN-Menschenrechtscharta unterzeichnet hatte, das Recht auf Freizügigkeit anzuerkennen. Trotzdem gewährte die DDR aber auch weiterhin nur Rentnern und Invaliden die Übersiedlung in die Bundesrepublik. Bereits einen Ausreiseantrag zu stellen, galt - da die Rechtsgrundlage in der DDR fehlte - als illegal und konnte mit Gefängnisstrafen geahndet werden. Das geschah auch häufig.
Nicht nur die Zahl der Anträge nahm seit Mitte der 70er Jahre zu, Ausreisewillige traten nun auch immer häufiger öffentlich mit Protesten in Erscheinung, wobei sie die Möglichkeit einer Inhaftierung in Kauf nahmen. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Entschlossenheit, mit den Verhältnissen in der DDR konsequent zu brechen, wurden sie in den Augen des MfS zu einem Sicherheitsrisiko. Auch die 1983 erlassene Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und Eheschließung zwischen Bürgern der DDR und Ausländern brachte keine Entlastung, da der Personenkreis eingeschränkt blieb. Ab Herbst 1983 bezeichnete das MfS diese Personengruppe als Übersiedlungsersuchende (ÜSE).
Obwohl Menschen, die die DDR verlassen wollten, ihren Antrag nur als Einzelperson oder ggf. gemeinsam mit ihren Familienangehörigen stellten, kann ab Mitte der 70er Jahre von einer Ausreisebewegung die Rede sein. Die Zahl der Ausreiseanträge war groß (zu den Zahlen der Republikflucht). Die Ausreiseantragsteller versuchten sich zu vernetzen und traten öffentlich in Erscheinung. Bereits 1973 ging von den auf die Genehmigung ihrer Ausreise hoffenden Familien Faust und Hauptmann in Pirna eine Unterschriftensammlung aus; 1976 gelangte die Petition des Riesaer Arztes Karl-Heinz Nitschke "zur vollen Erlangung der Menschenrechte" in die Westmedien. Die Petition war von 79 Personen unterzeichnet worden.
Bekannt wurden insbesondere die "weißen Kreise" (ausgehend von Jena Anfang der 80er Jahre, später auch in anderen Städten): Ausreiseantragsteller stellten sich auf zentralen Plätzen im Kreis auf und machten so auf ihr Begehren aufmerksam. Um sich untereinander zu erkennen und ihren Protest auszudrücken, trugen sie weiße Kleidung. Das MfS griff wiederholt ein und inhaftierte die Protestierenden.
Neben dem Besuch oder auch der Besetzung westlicher Botschaften in der DDR, insbesondere der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin, und im kommunistischen Ausland organisierten sich Ausreiseantragsteller ab 1987 in Gruppen, die zumeist bei evangelischen Kirchengemeinden Zuflucht fanden. In Ostberlin konstituierte sich im Herbst 1987 die Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR, die Rechtsberatungen durchführte, die Solidarität unter Antragstellern organisierte und mit Protesterklärungen auf das Schicksal der Antragsteller aufmerksam machte. Weitere Gruppen entstanden in Leipzig, Berlin-Treptow, Stralsund, Greifswald, Dresden und vielen anderen Städten.
Es kam immer häufiger zu öffentlichen Protesten. An Autos oder in Wohnungsfenstern wurden Symbole angebracht, um auf den gestellten Ausreiseantrag öffentlich aufmerksam zu machen. Mehrfach kam es auch zu Besetzungen von Kirchen, wobei die Kirchenleitungen nicht immer im Sinne der Besetzer agierten. Fanden Gespräche oder Rechtsberatungen mit Ausreiseantragstellern außerhalb kirchlicher Räume statt (wie in einem Jugendklub in Potsdam-Babelsberg), so intervenierte das MfS und nahm die unmittelbar Beteiligten meist in Haft.
Um gegen die zunehmende Zahl der Ausreiseanträge vorzugehen, erließ MfS-Minister Erich Mielke am 18.3.1977 den Befehl 6/77 zur "Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung rechtswidriger Übersiedlungsersuchen". Geregelt wurden hier auch die Informationspflicht und die Zusammenarbeit zwischen der 1975 (Befehl 1/75) gebildeten Zentralen Koordinierungsgruppe bzw. den Bezirkskoordinierungsgruppen, die für die Zusammenarbeit mit dem MdI und kommunalen Instanzen verantwortlich zeichneten, und den zuständigen MfS-Diensteinheiten.
Im Fall von auffällig "feindlich-negativen" Antragstellern, von denen potenziell Aktivitäten zur "Erzwingung" der Ausreise ausgingen, wurde seitens des MfS der Abteilung Inneres beim Rat des Bezirks oder Kreises die Option eingeräumt, eine "vorbeugende Übersiedlung" des Antragstellers zu veranlassen. Im Jahr 1988 musste das MfS immer wieder "öffentlichkeitswirksame Provokationen" von "aktiv handelnden Zusammenschlüssen" - Demonstrationen mit Hunderten, in Ausnahmefällen sogar mehreren Tausend Teilnehmern - in fast allen DDR-Bezirken feststellen.
Als wenig erfolgreich galten die in Verantwortung der Abteilung Inneres durchgeführten "Zurückdrängungsgespräche", die mit Antragstellern auf Weisung des MfS zu führen waren - nicht selten wurden diesen dabei eine Verbesserung der Wohnraumsituation oder die Aufhebung von Diskriminierungen am Arbeitsplatz in Aussicht gestellt. Antragstellern, die sich mehrfach an staatliche Stellen gewandt hatten (im MfS-Sprachgebrauch: "hartnäckige Antragsteller"), wurden strafrechtliche Sanktionen angedroht, und sie wurden nicht selten vom MfS inhaftiert. Dies traf vor allem dann zu, wenn Antragsteller Konsequenzen angekündigt oder westliche Stellen von ihrem Antrag in Kenntnis gesetzt hatten.
Von 1977 bis zum Sommer 1989 wurden in der DDR etwa 20.000 Ermittlungsverfahren gegen Antragsteller eingeleitet. Zuständig für die Bearbeitung war jeweils das MfS und deren Untersuchungsorgan; inhaftierte Antragsteller wurden in die MfS Untersuchungshaftanstalten überstellt und gelangten oft nach einer gerichtlichen Verurteilung über den Häftlingsfreikauf in die Freiheit. Flucht und Ausreise stellten ganz wesentliche Destabilisierungs- und Delegitimierungsfaktoren der SED-Herrschaft von 1949 bis 1989 dar.
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").
Signatur: BStU, MfS, ZAIG, Nr. 4599, Bl. 144-154
Nahezu 200.000 Menschen versammelten sich am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz und forderten demokratische Reformen in der DDR. Unterdessen informierte der vorliegende Wochenbericht die MfS-Führung über den Selbstmord zweier Parteifunktionäre.
Seit den 70er Jahren fungierte die Zentrale Auswertungs- und Informationsgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (ZAIG) als Schaltstelle der Geheimpolizei. Kernaufgaben dieser Diensteinheit waren die Auswertung von Informationen und die Erarbeitung von Berichten und Materialien zur Information des Ministers sowie der Partei- und Staatsführung. Diese Tätigkeit ging auf den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 zurück, der das MfS und die SED überrascht hatte.
Die ZAIG fertigte u.a. Wochenberichte an, welche die wichtigsten Ereignisse der vorangegangenen Tage für die Führung des Ministeriums und für die SED-Führung zusammenfassten. Das vorliegende Dokument umfasst den Zeitraum vom 30. Oktober bis zum 6. November 1989. Nachdem die Grenze zur Tschechoslowakei anfang November seitens der DDR wieder geöffnet worden war, kam es zu einer riesigen Ausreisewelle aus der DDR. Vorausgegangen war ein Beschluss vom 3. November, dass DDR-Bürger ihr Land ohne Formalitäten über das östliche Nachbarland verlassen dürften. Nur einen Tag später versammelte sich etwa 200 000 Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz und demonstrierte für demokratische Reformen.
Der vorliegende Wochenbericht beschäftigt sich hauptsächlich mit den Forderungen der Demonstranten, welche sie über Losungen etc. stellten. Zudem wird das Ausmaß der Ausreisebewegung thematisiert und auf den Selbstmord zweier Parteifunktionäre hingewiesen.
Mit Genehmigung der zuständigen staatlichen Organe der DDR sind seit dem 1. Januar 1989 87297 Bürger der DDR für ständig nach der BRD bzw. Westberlin ausgereist, davon 2149 (2465) in der Berichtswoche.
Die Ausgereisten waren vorrangig wohnhaft in den Bezirken Dresden / 16318 Personen, Karl-Marx-Stadt / 16164, Berlin / 12726 und Leipzig / 10578.
Darüber hinaus wurde ab 4.11.1989 entsprechend einer Vereinbarung zwischen der DDR und der CSSR die direkte Ausreise der sich in der BRD-Botschaft Prag aufhaltenden Erpresser sowie weiterer DDR-Bürger über die GÜSt der CSSR in die BRD gestattet. Auf diesem Weg reisten bis 6.11.1989 21216 DDR-Bürger in die BRD aus.
Weitere ständige Ausreisen erfolgten in der Berichtswoche durch 1488 Personen, die sich in erpresserischer Weise und in Obhut der BRD-Botschaft in Warschau aufhielten und durch die DDR-Botschaft in der VRP die erforderlichen Dokumente erhielten.
Die AIG entstanden mit der Einführung des einheitlichen Auswertungs- und Informationssystems 1965 aus den in den Bezirksverwaltungen und zentralen operativen Diensteinheiten des MfS schon bestehenden Informationsgruppen. In ihrem Zuständigkeitsbereich oblag ihnen die Bewertung und Selektion von Informationen, die Gewährleistung des Informationsflusses und die Fertigung der Berichte für die Partei- und Staatsfunktionäre. Die AIG unterstanden der fachlichen Anleitung und Kontrolle der ZAIG. 1978/79 wurden sie zu Auswertungs- und Kontrollgruppen erweitert.
Die DDR-Geschichte war von ihrem Anfang bis zu ihrem Ende auch eine Geschichte der Flucht. Der Bau der Mauer 1961 steht dafür ebenso symbolisch wie der von der Gesellschaft schließlich erzwungene Mauerdurchbruch 1989, der das Ende des SED-Staates markiert.
Zu einem Schwerpunkt in der Arbeit des MfS rückte ab den 70er Jahren das Vorgehen gegen "Antragsteller auf ständige Ausreise aus der DDR in die BRD bzw. nach Berlin (West)" (AStA) auf. Hierfür waren zwei Gründe ausschlaggebend: Mit der Unterzeichnung der KSZE-Schlussakte in Helsinki 1975 verpflichtete sich die DDR, nachdem sie bereits die UN-Menschenrechtscharta unterzeichnet hatte, das Recht auf Freizügigkeit anzuerkennen. Trotzdem gewährte die DDR aber auch weiterhin nur Rentnern und Invaliden die Übersiedlung in die Bundesrepublik. Bereits einen Ausreiseantrag zu stellen, galt - da die Rechtsgrundlage in der DDR fehlte - als illegal und konnte mit Gefängnisstrafen geahndet werden. Das geschah auch häufig.
Nicht nur die Zahl der Anträge nahm seit Mitte der 70er Jahre zu, Ausreisewillige traten nun auch immer häufiger öffentlich mit Protesten in Erscheinung, wobei sie die Möglichkeit einer Inhaftierung in Kauf nahmen. Nicht zuletzt aufgrund ihrer Entschlossenheit, mit den Verhältnissen in der DDR konsequent zu brechen, wurden sie in den Augen des MfS zu einem Sicherheitsrisiko. Auch die 1983 erlassene Verordnung zur Regelung von Fragen der Familienzusammenführung und Eheschließung zwischen Bürgern der DDR und Ausländern brachte keine Entlastung, da der Personenkreis eingeschränkt blieb. Ab Herbst 1983 bezeichnete das MfS diese Personengruppe als Übersiedlungsersuchende (ÜSE).
Obwohl Menschen, die die DDR verlassen wollten, ihren Antrag nur als Einzelperson oder ggf. gemeinsam mit ihren Familienangehörigen stellten, kann ab Mitte der 70er Jahre von einer Ausreisebewegung die Rede sein. Die Zahl der Ausreiseanträge war groß (zu den Zahlen der Republikflucht). Die Ausreiseantragsteller versuchten sich zu vernetzen und traten öffentlich in Erscheinung. Bereits 1973 ging von den auf die Genehmigung ihrer Ausreise hoffenden Familien Faust und Hauptmann in Pirna eine Unterschriftensammlung aus; 1976 gelangte die Petition des Riesaer Arztes Karl-Heinz Nitschke "zur vollen Erlangung der Menschenrechte" in die Westmedien. Die Petition war von 79 Personen unterzeichnet worden.
Bekannt wurden insbesondere die "weißen Kreise" (ausgehend von Jena Anfang der 80er Jahre, später auch in anderen Städten): Ausreiseantragsteller stellten sich auf zentralen Plätzen im Kreis auf und machten so auf ihr Begehren aufmerksam. Um sich untereinander zu erkennen und ihren Protest auszudrücken, trugen sie weiße Kleidung. Das MfS griff wiederholt ein und inhaftierte die Protestierenden.
Neben dem Besuch oder auch der Besetzung westlicher Botschaften in der DDR, insbesondere der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ostberlin, und im kommunistischen Ausland organisierten sich Ausreiseantragsteller ab 1987 in Gruppen, die zumeist bei evangelischen Kirchengemeinden Zuflucht fanden. In Ostberlin konstituierte sich im Herbst 1987 die Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht in der DDR, die Rechtsberatungen durchführte, die Solidarität unter Antragstellern organisierte und mit Protesterklärungen auf das Schicksal der Antragsteller aufmerksam machte. Weitere Gruppen entstanden in Leipzig, Berlin-Treptow, Stralsund, Greifswald, Dresden und vielen anderen Städten.
Es kam immer häufiger zu öffentlichen Protesten. An Autos oder in Wohnungsfenstern wurden Symbole angebracht, um auf den gestellten Ausreiseantrag öffentlich aufmerksam zu machen. Mehrfach kam es auch zu Besetzungen von Kirchen, wobei die Kirchenleitungen nicht immer im Sinne der Besetzer agierten. Fanden Gespräche oder Rechtsberatungen mit Ausreiseantragstellern außerhalb kirchlicher Räume statt (wie in einem Jugendklub in Potsdam-Babelsberg), so intervenierte das MfS und nahm die unmittelbar Beteiligten meist in Haft.
Um gegen die zunehmende Zahl der Ausreiseanträge vorzugehen, erließ MfS-Minister Erich Mielke am 18.3.1977 den Befehl 6/77 zur "Vorbeugung, Verhinderung und Bekämpfung rechtswidriger Übersiedlungsersuchen". Geregelt wurden hier auch die Informationspflicht und die Zusammenarbeit zwischen der 1975 (Befehl 1/75) gebildeten Zentralen Koordinierungsgruppe bzw. den Bezirkskoordinierungsgruppen, die für die Zusammenarbeit mit dem MdI und kommunalen Instanzen verantwortlich zeichneten, und den zuständigen MfS-Diensteinheiten.
Im Fall von auffällig "feindlich-negativen" Antragstellern, von denen potenziell Aktivitäten zur "Erzwingung" der Ausreise ausgingen, wurde seitens des MfS der Abteilung Inneres beim Rat des Bezirks oder Kreises die Option eingeräumt, eine "vorbeugende Übersiedlung" des Antragstellers zu veranlassen. Im Jahr 1988 musste das MfS immer wieder "öffentlichkeitswirksame Provokationen" von "aktiv handelnden Zusammenschlüssen" - Demonstrationen mit Hunderten, in Ausnahmefällen sogar mehreren Tausend Teilnehmern - in fast allen DDR-Bezirken feststellen.
Als wenig erfolgreich galten die in Verantwortung der Abteilung Inneres durchgeführten "Zurückdrängungsgespräche", die mit Antragstellern auf Weisung des MfS zu führen waren - nicht selten wurden diesen dabei eine Verbesserung der Wohnraumsituation oder die Aufhebung von Diskriminierungen am Arbeitsplatz in Aussicht gestellt. Antragstellern, die sich mehrfach an staatliche Stellen gewandt hatten (im MfS-Sprachgebrauch: "hartnäckige Antragsteller"), wurden strafrechtliche Sanktionen angedroht, und sie wurden nicht selten vom MfS inhaftiert. Dies traf vor allem dann zu, wenn Antragsteller Konsequenzen angekündigt oder westliche Stellen von ihrem Antrag in Kenntnis gesetzt hatten.
Von 1977 bis zum Sommer 1989 wurden in der DDR etwa 20.000 Ermittlungsverfahren gegen Antragsteller eingeleitet. Zuständig für die Bearbeitung war jeweils das MfS und deren Untersuchungsorgan; inhaftierte Antragsteller wurden in die MfS Untersuchungshaftanstalten überstellt und gelangten oft nach einer gerichtlichen Verurteilung über den Häftlingsfreikauf in die Freiheit. Flucht und Ausreise stellten ganz wesentliche Destabilisierungs- und Delegitimierungsfaktoren der SED-Herrschaft von 1949 bis 1989 dar.
Die ZAIG war das "Funktionalorgan" des Ministers für Staatssicherheit, die Schaltstelle im MfS, in der nahezu alle komplexen Stabsfunktionen konzentriert waren: die zentrale Auswertung und Information, einschließlich der Berichterstattung an die politische Führung, die Optimierung der entsprechenden Verfahren und Strukturen im Gesamtapparat des MfS, die zentralen Kontrollen und Untersuchungen und die Analyse der operativen Effektivität des MfS, die zentrale Planung und die Erarbeitung dienstlicher Bestimmungen, zudem die übergeordneten Funktionen im Bereich EDV sowie die Gewährleistung des internationalen Datenaustauschsystems der kommunistischen Staatssicherheitsdienste (SOUD). Nach der Eingliederung der Abteilung Agitation 1985 waren auch die Öffentlichkeitsarbeit und die Traditionspflege des MfS in der ZAIG als "Bereich 6" funktional verankert. Die ZAIG war im direkten Anleitungsbereich des Ministers angesiedelt; ihr waren zuletzt die formal selbständigen Abt. XII, XIII (Rechenzentrum) und die Rechtsstelle fachlich unterstellt.
Die ZAIG geht auf die nach dem Juniaufstand 1953 gegründete und von Heinz Tilch geleitete Informationsgruppe (IG) der Staatssicherheitszentrale zurück, die erstmals eine regelmäßige Lage- und Stimmungsberichterstattung für die Partei- und Staatsführung hervorbrachte. Diese entwickelte sich 1955/56 zur Abteilung Information mit drei Fachreferaten, wurde aber 1957 als Resultat des Konfliktes zwischen Ulbricht und Wollweber wieder stark reduziert. 1957 erhielt die Abteilung mit Irmler einen neuen Leiter, der jedoch bereits 1959 vom ehemaligen stellv. Leiter der HV A Korb abgelöst und zum Stellvertreter zurückgestuft wurde. Gleichzeitig wurde die Diensteinheit in Zentrale Informationsgruppe (ZIG) umbenannt; von da an lief auch die bisher eigenständige Berichterstattung der HV A über sie. 1960 wurde die Berichterstattung an die politische Führung durch einen Ministerbefehl präzise geregelt, und die ZIG erhielt mit der Neueinrichtung von Informationsgruppen in den BV und operativen HA einen soliden Unterbau.
1965 wurde die ZIG in ZAIG umbenannt und ein einheitliches Auswertungs- und Informationssystem eingeführt, das die Recherche und Selektion von Daten sowie die Organisierung von Informationsflüssen gewährleistete. In den operativen HA und BV erhielt die ZAIG mit den AIG entsprechende "Filialen". Im gleichen Jahr ging Korb in den Ruhestand, Irmler wurde wieder Leiter der Diensteinheit.
1968 wurde auch das Kontrollwesen der Staatssicherheit in die ZAIG eingegliedert, das im Dezember 1953 mit der Kontrollinspektion seinen ersten organisatorischen Rahmen erhalten hatte und 1957 mit der Umbenennung in AG Anleitung und Kontrolle erheblich qualifiziert worden war.
1969 erhielt die ZAIG auch die Verantwortung für den Einsatz der EDV. Das im Aufbau begriffene Rechenzentrum (Abt. XIII) wurde ihr unterstellt. In der ersten Hälfte der 70er Jahre bildeten sich vier Arbeitsbereiche der ZAIG heraus. Bereich 1: konkrete Auswertungs- und Informationstätigkeit und Berichterstattung an die politische Führung; Bereich 2: Kontrollwesen, die Erarbeitung von dienstlichen Bestimmungen sowie Prognose- und Planungsaufgaben; Bereich 3: Fragen der EDV; Bereich 4: Pflege und Weiterentwicklung der "manuellen" Bestandteile des Auswertungs- und Informationssystems. 1979 erhielt dieser Bereich auch die Verantwortung für das SOUD ("ZAIG/5").